Archive for September, 2009

Die liebe Familie

Mittwoch, September 30th, 2009

Meine Mutter ist ne Nutte,
Meine Schwester ebenso,
Selber trag ich eine Kutte,
Und mein Bruder treibt´s am Klo.

Einer seiner warmen Brüder
Hat auch mich schon angemacht,
Bückte nackt sich vor mir nieder,
Doch ich hab ihn ausgelacht.

Denn im Beichtstuhl brennt mein Feuer,
Wo die armen Sünder knien.
Ihrer Seelen Ungeheuer
Bringen mir das Herz zum Glühn.

Vater, ja, ist ein Ganove,
Momentan fault er im Knast.
Viele nennen ihn “der Doofe”,
Manche aber sagen “Gfrast”.

Auch ein paar so Spekulanten
Gibt es im Verwandtenkreis.
Hier ein Onkel, dort zwei Tanten,
Geld - so sagt man - macht sie heiß.

Nun, fürs erste reicht es wohl.
Was noch kommt, das bleibt hier offen.
Wie zum Beispiel Alkohol
Und das Kreuz mit andren Stoffen.

Bestie Zeit

Dienstag, September 29th, 2009

Wie wilde Tiere
Mit gelb funkelnden Augen
Aus düsterer Nacht,

Die mich verfolgen
Von einem Traum zum nächsten,
Weit offen das Maul,

Ihr heißer Atem
Wie Fackelzungen lechzend
In meinem Nacken,

Die spitzen Zähne
In mein Herz schlagend, bis Blut
Bricht aus der Wunde,

Bis die Gedanken
Zerfallen zu Staub. Nichts bleibt
Am Ende. Vielleicht

Ein Vers, ein Gedicht
Auf den turmhohen Halden,
Im Auswurf der Zeit.

Gedichte sind…(Haiku)

Dienstag, September 29th, 2009

Wie späte Rosen,
Die purpurn aufblühn im Licht
Meiner Gedanken.

Ereignischarakter von Gedichten

Montag, September 28th, 2009

“Narrative Texte geben Ereignisse wieder, während Lyrik danach strebt, Ereignis zu sein.”
(J.Culler “Literaturtheorie”)

Das Zitat verweist nicht nur auf die Sonderstellung, die einige Literaturwissenschafter der Lyrik attestieren, als der literarischsten aller Gattungen, es verweist v.a. auf die unterschiedlichen Funktions-und Wirkungsweisen narrativer und lyrischer Struktur. Als ungeeignet für den Vergleich erweist sich dabei die dramatische Literatur, die primär nicht gelesen wird, wo Ereignis (=Texteigenschaft) und Erlebnis (=Subjekterfahrung) an Inszenierung und Aufführung im Theater geknüpft sind, also an interpretierende Instanzen, die sich zwischen Text (Autor) und Leser (Zuhörer) schieben.
Bei narrativen Texten bleibt das Ereignishafte auf die gemeinhin Geschichte oder Handlung genannte, außersprachliche Strukturebene beschränkt, wobei den narrativen Strukturen Erzählinstanz und Erzählform die Funktion der Vermittlung der zur Geschichte gefügten Geschehnisse zukommt. Und obwohl der Text nicht nur vermittelt, sondern die Geschichte auch konstituiert, werden im Rezeptionsakt Geschichte und Vermittlung wieder separiert, d.h. der Leser nimmt nur die Geschichte als Erlebnis wahr.
In der Lyrik hingegen entfalten sich fiktionaler und semantischer Bereich nur gemeinsam mit der sie tragenden Sprachstruktur. Alle an einem Gedicht beteiligten Elemente sind zu einer unauflöslichen Einheit verschmolzen, die in ihrer Ganzheit als Ereignis wirksam werden. Und dieses Einheit/Ganzheit=Ereignis-Prinzip funktioniert auch über den Rezeptionsakt als Ereignis/Erlebnis-Transformation, d.h. Ereignis und Erlebnis sind in der Lyrik ident. Es ist das Gedicht als Ganzes, so wie es auf dem Papier steht, das dem Leser zum poetischen Erlebnis wird.
Im Gegensatz zur Epik, wo die Literaturwerdung, also der Übergang vom mündlichen zum schriftlichen Erzählen nur geringe Auswirkungen auf die Herausbildung narrativer Strukturen zeitigte, wo erst das Aufblühen des Romans als bevorzugte Literaturform des etablierten Bürgertums zu einer Fülle an erzähltechnischen Errungenschaften und Fertigkeiten führte, entstanden die lyrischen Srukturen als unmittelbares Produkt der “Papierwerdung” des Gedichts. Als Ursache und Ausgangspunkt dieser Entwicklung fungierte ein Paradoxon - das lyrische Paradoxon. Es besagt, daß das lyrische Gebäude auf einem Fundament der Verfremdung errichtet wurde; daß ein Zustand der Verfremdung das Streben der Lyrik nach Einheit und Vollendung bedingt. Das für die Schaffung lyrischer Strukturen bis heute verbindliche Regelwerk resultiert aus der Notwendigkeit, die das ursprüngliche, das mündliche Gedicht zum Ereignis machenden Eigenschaften, nämlich die Einheit von Lyriker und Musiker, der direkte Vortrag und die Persönlichkeit des Dichters, dem Schrift gewordenen Gedicht zugänglich zu machen und so den Ereignischarakter zu wahren.
In der “Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik” nennt Nietsche die Einheit von Lyriker und Musiker, er spricht von Identität, das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik. Doch nicht nur in der Antike, auch im frühchristlichen Europa bis über das Mittelalter hinaus (Troubadours, Minnesänger) und in alten Hochkulturen wie Persien, Indien oder China ist die Einheit Dichter - Musiker dokumentiert, was ihre herausragende Bedeutung im ursprünglichen Gedicht außer Zweifel stellt und wodurch auch das Primärziel für die Entwicklung lyrischer Strukturen vorgegeben war - die Transformation von Musik in Sprache. Als Resultat dieser Transformation entstanden die bis heute verbindlich gebliebenen Basisstrukturen, allen voran der Vers, also Versformen und der ihnen zugrunde liegende Takt, das Metrum, dann Strophe und die sie leimenden Reimarten sowie Liedform wie Oden, Lieder als erste Gedichttypen.
Durch einen zweiten Transformationsschritt kam es zum Wandel des biographischen Ichs in ein Dichter-Ich, wodurch die “papierene” Lyrik Persönlichkeit und Identität erhielt, nach Stimme, Melodie und die sie bedingende unmittelbare emotionale Wirkung durch die musikalische Transformation. Diese vom Dichter-Ich geprägte Identität der Lyrik wird in der Theorie häufig und fälschlich als subjektiver Charakter klassifiziert. Das Dichter-Ich spiegelt die Identität des Dichters in seiner lyrischen Existenz. Daneben hat jedes Gedicht noch sein eigenes Subjekt, seine spezifische Identität, das Gedicht-Ich, das sich im Entstehungsprozeß als Teil dieses Prozesses durch Synthese aus biographischem Ich und Dichter-Ich herauskristallisiert. Aufgrund fehlender Differenzierung erweist sich der häufig gebrauchte Terminus “Lyrisches Ich”, das einmal Dichter-Ich, ein anderes Mal Gedicht-Ich meint, als dringend renovierungsbedürftig.
Die personale Transformation, also die Metamorphose von der biographischen in die lyrische Existenz führte zur Erweiterung und zur Vertiefung des poetischen Raums. Das Gedicht wurde zum Ort bzw. Medium einer metaphysischen Einheit, zum dichterischen Ausdruck eines Strebens nach dem Sublimen. “Das Ich des Dichters tönt aus dem Abgrund des Seins.” (Nietsche)
In einem weiteren Transformationsschritt, dem der Malerei in Sprache, (Stefan George: “was in der malerei wirkt ist verteilung linie und farbe, in der dichtung: auswahl mass und klang.”) vollendet das Gedicht schließlich in dreidimensionaler Komplexizität - auf phonetischer, auf visueller und auf semantischer Ebene - seine Ereignishaftigkeit.
Und nicht zuletzt aus historischer Perspektive bewähren sich die unterschiedlichen, zeitspezifischen Prägungen der Einheit/Ganzheit = Ereignis-Formel als verläßliche Indikatoren für den jeweiligen Epochenstil: Während die Lyriker der Romantik versuchten, in ihren Gedichten den lyrischen Ursprung zu simulieren, wodurch das Ereignisstreben als ein “Zurück zu den Wurzeln” funktionierte, wurde für die Lyriker der Moderne die Freilegung des Verfremdungsfundaments bzw. das Miteinbeziehen dieses Fundaments in das Einheit/Ganzheit-Streben zu einer wichtigen Inspirationsquelle ihrer Dichtkunst.

Der Kuß *

Freitag, September 25th, 2009

Wenn deine Lippen
Sich vor Verlangen so heiß
An meine schmiegen,

Und deine Hände
Sanft und entschieden
Meinen Nacken umschließen,

Werd ich verzaubert,
Bin ich gefangen vom Duft,
Dem traumsüßen Duft

Blühender Rosen,
Der den Atem trägt, und schwingt
Dein Fühlen zu mir,

Wie Himmelsboten,
In das laut pochende Herz,
Tief und tiefer, dann

Schließ ich die Augen.
In die Gedanken fällt Schnee
Und stillt allen Durst.

* für Gerda

Schweigend sehn wir die Blätter fallen *

Donnerstag, September 24th, 2009

Die Tage werden
Kürzer. In der Dämmerung
Hausen Gespenster.

Aus dem Gewölk bricht
Manchmal die Sonne hervor
Und läßt Wälder glühn.

Ein kühler Wind pfeift
Seine Lieder durch Ritzen
Trüber Gedanken.

Die Sommergäste
Sind gen Süden gezogen.
Wir bleiben zurück.

Wir bleiben. Schweigend
Sehn wir die Blätter fallen,
Fallen bis zum Grund.

Nachts sind die Fenster
Wieder fest verschlossen. Angst
Maskiert das Gesicht.

Das faschistische Herz

Mittwoch, September 23rd, 2009

Täglich schluck ich bunte Pillen,
Fühle mich dann richtig wohl.
Kommt mir jetzt nicht mit dem Willen,
Selber sauft ihr Alkohol,

Schlimmer noch, seid abstinent,
Aber Hüter der Moral,
Eine, die sich selbst verkennt,
Eine, ohne jede Wahl.

Eine Ordnung aus Verboten,
Bis die Freiheit Ordnung ist.
Ja, ich kenne solche Noten,
Wer sie pfeift, ist ein Faschist.

Ja, Faschisten seid ihr alle.
Momentan zwar noch geheim,
Aber kommen die Krawalle,
Dürft ihr es ganz offen sein.

Jetzt spielt ihr den Demokraten,
Und ihr spielt ihn wahrlich schlecht,
Wie manch Bildschirmkandidaten,
Die vom Trubel sind bezecht.

Im Namen der Lyrik - eine postmoderne Posse

Dienstag, September 22nd, 2009

“Gestern bekam ich / keinen Steifen. / Vorgestern / auch nicht. / Und vorgestern / war er höchstens / halb steif. // Die Liebe ist eben / etwas Weiches / Zartes.” // (S.35)

“Mitten im Schreiben / eines Gedichts / will sie mit mir / ins Bett / gehen. // Wie soll ich da / die richtigen Worte / finden?” // (S.51)

“Gestern bekam ich / einen Steifen / und wollte dich / sofort haben. // Ich verstehe nicht / warum du diese Einladung / nicht sofort / angenommen hast.” // (S.52)

“Daß ich nicht weiß / ob ich / oder der andere / mit diesem Stöhnen / gemeint ist / dafür / bestrafe ich dich / mit der ganzen Kraft / meines Schwanzes.” // (S.77)

Die zitierten Beispiele sind nicht dem Tagebuch eines pubertierenden Knaben entnommen, sie stammen vielmehr aus dem 2005 bei Suhrkamp in erweiterter Auflage erschienenen Buch “Im Namen der Liebe”, Gedichte von Peter Turrini (Erstausgabe 1993 bei Luchterhand), einem Sammelsurium literarischer Unsäglichkeiten, das es, anders als die schon wieder vergessenen Werke seiner Kollegen, zu einer Neuauflage im 21.Jh. brachte und so eine echte Ausnahme in seiner Art darstellt.
Aber weder die sprachliche Unbedarftheit, noch der peinliche Inhalt der Turrini-Texte, nicht der Beliebigkeitscharakter, der die Werke seiner Kollegen auszeichnet, ja nicht einmal ihre literarische Existenz an sich, macht diese Texte zum echten Ärgernis, sondern der Umstand, daß sie nichts weniger sind als das, was sie zu sein vorgeben - nämlich Gedichte.
“Ein gut Teil dessen, was heute als Lyrik angeboten wird(…), ist steckengebliebene Prosa, ist Schwundform des Essays, ist Tagebuch im Stammelton”, erkannte der Germanist P.Wapnewski schon vor 30 Jahren scharfsichtig in seinem Essay “Gedichte sind genaue Form”. Und die Gültigkeit seines Befunds hat sich seither in erschreckendem Ausmaß verdichtet.
Leider unterließ es Wapnewski, den gemeinsamen Nenner all der lyrisch gewandeten Texte zu verifizieren. Dieses Versäumnis soll hier nachgeholt werden und damit einhergehend die Entlarvung des Etikettenschwindels, der seit gut 40 Jahren im Namen der Lyrik und zur Verhöhnung von Literatur und Lesern gleichermaßen betrieben wird, sowie die Beendigung jener Posse, deren Inszenierung das unangefochtene Flaggschiff dt. Literaturgeschichte ohne Bedenken versenkte, derweil sie selbst als Literatur im Koma - weil nicht gelesen - am Tropf einer unheiligen Allianz aus Schreibern, Verlegern und Rezensenten hängend, ins 21. Jh. herüberdämmert.
Denn die heute vorherrschende lyrische Konvention ist in toto das Resultat von Irrtümern und Mißverständnissen einer von ideologischen Prämissen der späten 60er Jahre des 20. Jh. herrührenden Theorie, deren elementarster Irrtum in der Gleichsetzung von Original und Imitation liegt, wobei sich die Imitation aus der Verdrehung von Ursache und Wirkung legitimiert.
Auf den Punkt gebracht lautet die gängige Meinung vom Gedicht: Ein Text ist ein Gedicht, wenn er so aussieht wie ein Gedicht und von seinem Verfasser als solches bezeichnet wird. Dies Faktum aber offen auszusprechen, gilt als nicht opportun. Umso mehr ist es ein längst überfälliger Akt der Notwendigkeit, dieses falsche und in Opposition zur Originallyrik stehende Bild zu korrigieren, denn der Zustand völliger Ruiniertheit, in dem sich die dt. Gegenwartslyrik befindet und ihre daraus resultierende Bedeutungslosigkeit, ändern nichts daran, daß das zeitgenössische Gedicht unverzichtbarer Bestandteil einer funktionierenden Gesamtliteratur ist. Die gegenwärtige Misere der postmodernen Prospoesie oder Prosyrik, wie sie im Folgenden genannt wird, ist also keine des Gedichts, sondern eine des nicht vorhandenen Gedichts.
Aus historischer Sicht läßt sich die Verdrängung der Lyrik durch schriftbildimitierende Prosatexte und deren Kanonisierung als zeitgenössische Lyrik nur aus dem alle Lebensbereiche erfassenden gesellschaftlichen Wandel der späten 60er Jahre, dem damit einhergehenden Generationswechsel und einem Zeitgeist, der alles Alte schlecht und alles Neue gut hieß, verständlich machen.
Und neu war das sogenannte Prosagedicht tatsächlich, wenngleich kein Gedicht, sondern ein literarischer Lausbubenstreich einer neuen Autorengeneration, deren lyrisches Verständnis über den in W.Kaysers “Kleine dt. Verslehre”, (1946) eingangs stehenden Satz “Wenn auf einer Seite um das Gedruckte herum viel weißer Raum ist, dann haben wir es gewiß mit Versen (Gedichten) zu tun” nicht hinausreichte.
Und diese vom Erfolg gekrönte Attacke gegen die Dichtkunst geschah nur eine Dekade nach dem goldenen Jahrzehnt dt. Lyrik (Bachmann, Bobrowski, Celan, Eich, Enzensberger, Huchel, Krolow, u.a.m.), wobei das individuell wie künstlerisch höchst unterschiedliche Reagieren der Dichter auf den enormen Anpassungsdruck eines größtenteils als positiv empfundenen Wandels aus Platzgründen hier ausgeklammert werden muß: Vom tragischen Verstummen der Besten (Bachmann, Celan) bis zum Nachahmen der Nachahmer durch die Mittelmäßigen und der daraus erwachsenden und bis heute fortwährenden babylonischen Begriffsverwirrung, der Vermischung und Vermatschung der Formen und der Einverleibung der lyrischen Deutungshoheit durch selbsternannte und akademische Experten.
Die in beide Richtungen weisende Widersprüchlichkeit, ja Unvereinbarkeit von Prosa und Lyrik, die nicht zuletzt auf der Einsicht der literarischen Einheit von Sprache und Form fußt, war für Dichter und Denker im Verlaufe der gesamten Literaturgeschichte so selbstverständlich, daß darauf keine Worte verschwendet wurden.
Erst 1952 nahm der Lyriker und Essayist F.G.Jünger eine exakte Bestimmung und Differenzierung von Prosa und Lyrik vor, die als verbindlich erachtet werden kann (F.G.Jünger, “Rhythmus und Sprache im dt. Gedicht”). Demnach definiert sich Prosa (lat.) als die geradeaus gehende, ungebundene Rede, deren Ordnung einzig die des Satzes ist.
Die systematische Verwendung von Prosa als Literatursprache ist ein Phänomen der Neuzeit, untrennbar verbunden mit der repräsentativen Literaturform des sich etablierenden Bürgertums, dem Roman. Und diese Synthese sollte zum Erfolgsmodell der abendländischen Literatur schlechthin werden, denn in der weiträumigen Erzählform des Romans kann die ungebunden dahinfließende Prosasprache zur vollen Entfaltung gebracht werden und umgekehrt. Sprache und Form korrespondieren in nahezu idealer Weise miteinand.
Im neuzeitlichen Drama hat der Wechsel vom Vers zur Prosasprache andere Ursachen denn literarische Notwendigkeit. Das Theater als eine dem Publikum verpflichtete Einrichtung spiegelt vielmehr die sich wandelnden Sprachkonventionen und der Dialog in Versen wurde zunehmend als unnatürlich empfunden.
Und so verbleibt der Vers in der neuzeitlichen Literatur dort, wo er hingehört und wo er unverzichtbar ist - beim Gedicht.
Der Vers ist für das Gedicht, was die Buchstaben für das Wort, was die Wörter für den Satz sind. In gewisser Hinsicht ist er das Gedicht, sind doch die übrigen, allein dem Gedicht eigenen Strukturmittel wie Strophe und Gedichttypen als Erweiterung des Verses zu begreifen. Aus dem Vers heraustreten heißt, das Gedicht verlassen, wozu auch die Verknappung auf das Wort gezählt werden muß, die einen Schritt von zweien markiert, deren zweiter das Verstummen bedeutet.
Und auch das zweite, nur dem Gedicht inhärente Phänomen, sein Ereignischarakter (”Narrative Texte geben Ereignisse wieder, während Lyrik danach strebt, Ereignis zu sein,” J.Culler) ist letztendlich durch die Versstruktur bedingt, in dem Sinne, daß es die dichterische Gestaltung und Zusammenfügung der Verse ist, die das Gedicht als Ereignis funktionieren lassen.
Doch zurück zum lyrischen Analphabetentum und seiner Glorifizierung im Zeichen gesellschaftlichen Fortschritts.
Die Unvereinbarkeit von Prosasprache und Gedichtform läßt eine Verschmelzung nur als Imitation gelten. Die Nachahmung der Verse durch Prosazeilen zur Vortäuschung eines Gedichts basiert so auf der Verdrehung von Ursache und Wirkung. Während beim Gedicht die dem Vers eigene, selten mehr als 15 Silben umfassende Länge für das charakteristische Schriftbild verantwortlich ist, verhält es sich bei der Prosyrik, der Lyrikimitation durch Prosatexte genau umgekehrt. Hier konstituiert sich der Text aus beliebig gewähltem Rahmen und Benennung zum “Gedicht”.
In der Praxis heißt das: Um die Gedichtillusion zu evozieren, muß die den Vers imitierende Prosa links ins Blatt gerückt und rechts Zeile für Zeile abgebrochen und in der nächsten weitergeführt werden. (”Stammelpoesie”)
Schon Wapnewski demonstrierte bei Texten von Handke und Brinkmann auf exemplarische Weise, daß die beliebige Schriftbildverknappung bzw. Zeilenverengung bei Prosatexten keinen literarischen Substanzgewinn erzeugt, da sich die Prosa dem aufgezwängten und ihrem Wesen zuwider laufenden Schriftbild-Korsett nicht fügt, was auch beim Lesen solcher Texte deutlich wird, bei denen die Betonung der Syntax und nicht dem Vers, wie beim Gedicht, folgt.
Damit aber entlarvt sich das einzige formale Gestaltungsmittel der Prosyrik, das mit solch Eifer und überaus manieristisch gepflegte “Zeilenbrechen” - wobei der Zeilenbruch innerhalb eines Wortes als besonders progressiv gehandelt wird - als pure Effekthascherei, als literarisches Hochstapeln, als poetisches Pseudogetue, als lyrischer Selbstbetrug.
Das Wesen der Prosa ist nun einmal ihr ungebundener, geradeaus gehender Sprachfluß und geradeaus bedeutet in der dt. Sprache horizontal. Sie von der Blattmitte aus vertikal zu schreiben, wie z.B.: “Wir / Fanden / Zusammen / Aber / Trafen uns / Nicht / …” (A.J.Hess, “Verfehlt”) und dies als Gedicht auszugeben oder zu akzeptieren, verweist auf ein lyrisches Verständnis, aus dem heraus alles möglich scheint, weil nichts wirklich ist.
Aus heutiger Sicht läßt sich die Prosyrik mit wenigen Worten charakterisieren, als historischer Irrtum, als sprachlicher Betriebsunfall, als literarischer Blindgänger. Und um den Epigonen der Epigonen der Imitatoren der letzten 30 Jahre in einer Wertung gerecht zu werden, empfehlen sich ohnedies nur Schweigen und rasches Vergessen; anders wären Baudelaires “Blumen…” und Shakespeares “Sonette” in dt. Prosa nacherzählt, kaum zu ertragen.

Lyrik und Pseudolyrik - eine Grenzziehung

Dienstag, September 15th, 2009

Vor 150 Jahren starb Heinrich Heine, vor 50 Jahren G.Benn und B.Brecht, dazwischen liegen 100 Jahre moderner deutscher Dichtkunst - Anlaß genug, um abseits feuilletonistischer Weihrauchschwingerei den Blickwinkel zu drehen und aus der lyrischen Perspektive - “wie alle im besten Sinne radikalen Positionen eine zutiefst traditionalistische also” (T.Eagleton) - die heutige Lyrik, das zeitgenössische deutsche Gedicht am Beginn des 21. Jh. zu betrachten.
Die gegenwärtige Lyrik? Das zeitgenössische deutsche Gedicht? Es gibt keine gegenwärtige Lyrik. Das zeitgenössische deutsche Gedicht ist eine Fiktion, ein Etikettenschwindel der Verlage, Tarnung und Täuschung als Resultat von Unkenntnis, Orientierungslosigkeit und ideologisch bedingter Sichtverengung aller Beteiligten.
“Ein gut Teil dessen, was heute als Lyrik angeboten wird und prosperiert, ist steckengebliebene Prosa, ist Schwundform des Essays, ist Tagebuch im Stammelton…”, schrieb der Germanist P.Wapnewski 1977 in seinem Essay “Gedichte sind genaue Form” und abgesehen vom Wort “prosperiert” und einer leicht wertenden Tendenz hat die Gültigkeit seines Befunds in der Zwischenzeit ein fast flächendeckendes Ausmaß angenommen. Doch so zutreffend Wapnewski die im folgenden als postmoderne Poesie bezeichneten Texte (abgekürzt PP) im einzelnen auch charakterisierte, so unterließ er es leider, die ihnen zugrunde liegenden Basisstrukturen freizulegen, ihren gemeinsamen Nenner aufzuzeigen.
Sein Therapievorschlag, die Gattungslehre wieder zur Prämisse allen literarischen (hier des lyrischen) Handelns zu machen, spiegelt die unterschiedlichen Perspektiven von Theorie und Praxis, was seine im Kontext erfolgte Berufung auf Goethes “Naturformen der Dichtung” noch unterstreicht. Die darin enthaltene Definition von Lyrik als “enthusiastisch, aufgeregt”, kann für des Meisters eigene Lyrik wohl kaum als verbindlich gesehen werden. Die Gattungslehre, robust, bewährt, praktikabel, klassifiziert Literatur von außen und nach ihrer Fertigstellung. Für das literarische Handwerk hingegen, ganz gleich, ob Lyrik, Epik oder Drama gehört das Integrieren und Assimilieren von Elementen anderer Gattungen nicht nur bei Mischformen (z.B. Balladen) sondern generell zur ständig geübten Praxis. Entschieden widersprochen werden muß auch sowohl Wapnewskis Differenzierung zwischen Lyrik und dem Lyrischen, als auch der Zuordnung der “Schwund-und Stammelform” zum Lyrischen, als einer Art Vorstadium der Lyrik. Das Lyrische und die Lyrik sind Früchte eines Stammes. Hier gibt es nichts zu differenzieren. Und die postmoderne Poesie (PP) ist weder Lyrisch noch Lyrik, was allein die Bedeutung des Begriffs nahelegt, der sich von “lyra”, einem harfenähnlichen Saiteninstrument aus der griechischen Antike, herleitet.
Die zu ziehende Genze verläuft zwischen Lyrik auf der einen und Pseudolyrik (PP) auf der anderen Seite; zwischen Gedichten hier und das Schriftbild von Gedichten imitierenden Prosatexten da. Es handelt sich um zwei Textsorten von diametraler Unterschiedlichkeit, ein Faktum, dessen erfolgreiche Verschleierung wegen der rasch zur Konvention gewordenen Okkupation des Lyrikbegriffs durch die Schreiber von PP bis heute fortwährt.

Original und Imitation im Strukturvergleich

In “Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht” (1952) nimmt der Lyriker F.G.Jünger eine genaue Unterscheidung von Lyrik und Prosa vor, die sich in den Gegensatzpaaren Vers/Satz und Metrum/Rhythmus manifestiert.
Prosa, lat. die geradeaus gehende, metrisch nicht gebundene Rede, ist in Sätzen abgefaßt, die nur den Regeln der Grammatik folgen. Sie ist die Sprache der epischen Literatur.In ihr gewinnt sie Tempo und Rhythmus, aus ihr schöpft sie Atem, durch sie erhält sie ihre literarische Identität. Die Etablierung der Prosa als Literatursprache ist eng mit dem Siegeszug des Romans zur dominierenden literarischen Form verknüpft, eine Entwicklung, in der sich, von England ausgehend, Emanzipation und Aufstieg des europäischen Bürgertums historisch wie literarisch spiegeln, und die im Romanmonopol auf dem globalisierten Literaturmarkt der Gegenwart mündet.
Galten in der Antike und im Mittelalter Verse noch für alle Formen von Literatur als verbindlich, so konzentriert sich ihre Verwendung verkehrt proportional zur “Prosaisierung” oder Profanisierung der literarischen Formen immer stärker auf die Lyrik allein. Im Gedicht findet der Vers seine endgültige Bestimmung, hier gelangt er zur Vollendung.
Anders als in der Prosa, deren Topik nur durch das einfache continuum des Satzes bestimmt wird, ist in der Lyrik ein doppeltes continuum wirksam (F.G.Jünger). Vers und Satz (metrisches und syntaktisches continuum) müssen zur Übereinstimmung gebracht werden. Dies - die Verteilung des Satzes auf den Vers - geschieht durch Umstellungen in der Wortfolge, durch metrische Inversionen. F.G.Jünger: “Ohne Inversionen keine Dichtung. Ohne die Fähigkeit, metrische Umstellungen vorzunehmen, kein Dichter.”
Und es ist auch eine spezifische Eigenschaft des Verses, nämlich seine selten mehr als 15 Silben umfassende Länge, die das für Gedichte so typische Schriftbild mit den weißen Rändern links und rechts bzw. mit dem wort-losen Rahmen um das Geschriebene herum zu verantworten hat. Daneben wirken noch Strophen und die geringe Textmenge konstituiv für das Schriftbild.
Bei der PP verhält es sich genau umgekehrt. Durch Vertauschung von Ursache und Wirkung sind es hier die “schweigenden Ränder”, ist es der wort-lose Rahmen, der den (Prosa)Text - neben seiner Benennung - als Gedicht konstituiert. In keiner Phase der Lyrikgeschichte gibt es eine vergleichbare Häufung von Titeln, die das Wort Gedicht enthalten, wie in der postmodernen Phase, ironischerweise ohne daß die so betitelten Texte Gedichte sind, wodurch sich der Imitationscharakter PP besonders deutlich offenbart.
“Ist Lyrik herstellbar geworden durch den Setzer, d.h. ist sie lediglich das Resultat so oder so umbrochener Zeilen…” fragt Wapnewski in “Gedichte sind genaue Form” um anschließend durch Textumstellungen auf exemplarische Weise die Beliebigkeit PP aufzudecken, eine Beliebigkeit, die v.a. daher rührt, daß sich die literarischen Eigenschaften der ihrem Wesen nach zeilenfüllenden Prosa (”die geradeaus gehende Rede”) durch ein anderes, willkürlich gewähltes und Gedichte nachahmendes, Schriftbild nicht ändern, d.h. daß es für das Lesen (den Leser) einerlei bleibt, ob die Zeilen so oder so abgebrochen oder vollgeschrieben werden.
Das führt direkt zu einem zusätzlichen, das Pseudoformat erhellenden Widerspruch, der beim Lesen dieser Texte offenkundig wird. Die Betonung beim Lesen folgt nicht dem Schriftbild, wie bei Versen, Gedichten üblich, sondern der Syntax (der Prosa), d.h. die oft überaus manieristisch gestalteten Zeilenbrüche müssen, um den durch sie hervorgerufenen Stottereffekt auszuklammern, überlesen werden, als existierten sie nicht.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, sei an diese Stelle vermerkt, daß durch die Analyse PP nicht das lyrische Potential von Prosa in Zweifel gezogen wird. Es gibt genügend vortreffliche Beispiele lyrischer Prosa. Dolch solche Texte geben nicht vor, Gedichte zu sein.
Wie alle traditionellen Literaturformen baut Lyrik auf historisch gewachsenen Strukturen, PP hingegen ist ahistorisch und formal entwicklungsresistent. Sie imitiert das Original an der Oberfläche und konstituiert sich aus Rahmen und Benennung. PP ist eine Hybridform, gezeugt aus der Verschmelzung zweier ihrer literarischen Identität beraubten Ausgangsformen, herstellbar ohne Arbeitsaufwand und ohne Vorkenntnisse, als Phänomen verständlich nur aus dem ideologisch geblähten und auf “fortschrittlich” getrimmten Zeitgeist der späten 60er und folgenden 70er Jahre des 20. Jh..
Weniger literarisch denn psychologisch interessant sind auch die Methoden PP, fehlende Texteigenschaften durch Neupositionierung im Verhältnis zum Leser zu kompensieren und so Bedeutung vorzutäuschen. a) Durch Herabstufung zum Laien wird dem nicht professionellen Leser literarische Kompetenz a priori aberkannt. b) Durch Befolgung der Aufforderung, sich den Text “aktiv” zu erarbeiten, statt ihn nur “passiv” zu konsumieren, kann sich der Laie die zuvor aberkannte Kompetenz wieder aneignen und zum mündigen Leser aufsteigen. c) Mittels theoretischer oder poetologischer Beipacktexte wird der lesende Laie über die Bedeutung des poetischen Textes informiert, wobei in der Regel Bedeutung mit der Intention des Autors gleichgesetzt oder verwechselt wird.
Genaugenommen handelt es sich hier um den dreisten Versuch postmoderner Poeten, persönliches Unvermögen auf den Leser abzuwälzen, und mangelhafte Texte so als mangelhafte Leserkompetenz darzustellen.

Historische Grenzziehung

Der gesellschaftspolitische Wandel in der zweiten Hälfte der 60er und folgenden 70er Jahre des 20. Jh. und der ihn tragende Generationswechsel spülten nicht nur eine neue Autorengeneration, deren Texte den Beginn der PP markieren, in den medialen Vordergrund, sie erteilten auch einer ideologisch gleichgepolten, neuen Generation von Germanisten, Journalisten, von Verlegern, Lektoren, von Lehrern und Lesern u.ä.m. das Wort, wodurch Klassifizierung und Kanonisierung, also die “Weihe” dieser Texte als zeitgenössische Lyrik, rasch anerkannt und zur literarischen Konvention wurden. Diese Weihe, d.h. die Gleichsetzung von PP mit Lyrik, schuf das Fundament einer bis heute wirksamen Begriffsverwirrung mitsamt den darauf wuchernden, negativen Folgen für die Lyrik und den literarischen Diskurs.
Die PP deutschen Zuschnitts orientierte sich nicht an theoretischem Basismaterial, sondern beschränkte sich auf das Nachahmen amerikanischer Vorbilder, v.a. Frank O´Haras Alltagsnichtigkeiten und des nicht weniger alltäglichen Gebrabbels der unter dem Begriff “beat generation” subsumierten Autoren. Auch W.Höllerers unaufhörlich um Atem ringende “Thesen zum langen Gedicht”, ein im Kontext häufig erwähnter Text, eigentlich eine contradictio in adjecto (E.A.Poe), muß dieser ersten Amerikanisierungswelle in der deutschen Literatur zugeordnet werden.
Das parallel mit der Ausbreitung PP einhergehende, allmähliche Verstummen der “eigentlichen” Lyrik(er), ihre Verdrängung an den Rand der literarischen Öffentlichkeit, die ideologisch motivierten, oft aggressiven Attacken gegen ältere Lyriker, ihre Diffamierung und Verunglimpfung als antiquiert bis reaktionär - dem schlimmsten Bannwort jener Tage - , all das führte zu einem enormen Anpassungsdruck an den Zeitgeist, dem viele Dichter nicht standhalten konnten, ohne Schaden zu nehmen an Person und Werk. Allein das in seinen künstlerischen Ausformungen überaus vielschichtige, in seiner zeitlichen und individuellen Dimension stark divergierende “lyrische Verstummen” macht eine historische Grenzziehung zwischen Lyrik und PP nur anhand von Einzeldarstellungen möglich, ein Unterfangen, das Rahmen und Konzeption des Essays überdehnen würde.
In den von postmodernen Schreibern verfaßten Geschichtsbüchern wird die unzulässige Gleichstellung von PP mit Lyrik wie ein simpler Zaubertrick zur Anwendung gebracht, um den Übergang von der Lyrik zu PP, einen in der Literaturgeschichte einmaligen Paradigmenwechsel, einfach nicht existent zu machen. Bei einem an sich höchst dubiosen Modell der Geschichtsschreibung, nach dem sich Literatur in einer linearen Kette von Kausalitäten vorwärtsentwickelt, wo im Dekadenrhythmus eine Schublade zu und die nächste aufgemacht wird, reduziert sich die Komplexizität kulturhistorischer Prozesse auf ein schlichtes, eindimensionales Reiz-Reaktions-Schema. Wird aber die “lyrische Existenz” in postmoderner Zeit ausgeklammert, dann bleibt für die historische Darstellung, außer einem in mancherlei Hinsicht bemerkenswerten Zeitgeistfaktor, kaum Relevantes übrig. Nach einem ersten Höhepunkt in den 70er Jahren, der medial mit Begriffen wie “Neue Subjektivität”, “Neue Sinn-oder Innerlichkeit” u.ä. abgefeiert wurde, erreichte die PP in den 80er Jahren ihre größte Ausdehnung mit neu entfachtem Imitationstrieb, der auch vor einst verhöhnten, traditionellen Formen wie Sonetten nicht haltmachte und einer Schwemme an beigepackten Legitimationstheorien mit aus heutiger Sicht z.T. haarsträubenden Argumentationszöpfen, deren gemeinsamer Nenner als ideologisches Fortschrittsdiktat beschrieben werden kann.
Mit Beginn der 90er Jahre nahmen Leserinteresse und Kaufbereitschaft für die nun des Zeitgeistfaktors verlustig gewordenen Bücher mit PP rapide ab. Das Bemühen ihrer in die Jahre und zu Ehren gekommenen Väter und Mütter, das Erbe zu wahren, sowie die Anstrengungen ihrer Propagandisten und Apologeten, über ihre Funktion im Literatur-und Medienbetrieb, z.B. als Lektoren bei der Selektion neuer Manuskripte, oder als Juroren und Fachbeiräte bei der Vergabe von Preis-und Fördergeldern an den epigonal gestimmten Nachwuchs, oder als notorisch Schönfärberei betreibende Rezensenten im Feuilleton, das überschrittene Ablaufdatum weiter hinauszuzögern, kann einem Dasein zwischen Koma und Agonie einzig noch die künstliche Beatmung sicherstellen. Diese zu rechtfertigen, bedarf es noch einmal des Gleichstellungstricks von PP mit Lyrik, um das Desinteresse an PP als generelles Desinteresse an Lyrik darzustellen.
Als unrühmlicher Schlußpunkt einer für die Literatur unrühmlichen Episode muß ein auf den deutschen Sprachraum beschränkt gebliebenes Phänomen gesehen werden, in dem einmal mehr die elementare Verschiedenartigkeit zweier literarischer Konzeptionen manifest wird. Gemeint sind die im letzten Jahrzehnt modisch gewordenen “Prosaübersetzungen” von Lyrikklassikern der Weltliteratur, allen voran Charles Baudelaires “Les fleurs du mal”.
Nun gilt Lyrik aufgrund ihrer Spezifika an sich als unübersetzbar. Um wieviel mehr hat das für Baudelaires “Blumen…” zu gelten, Gedichten von architektonischer Formenstrenge, wo jedes Wort, jede Silbe eine unverrückbare Position innehat. Trotzdem gibt es kongeniale Nachdichtungen ins Deutsche, von Stefan George und Karl Ammer, die für sich hochgradige Dichtkunst repräsentieren. Aber “Les fleurs du mal” in deutscher Prosa nacherzählt, das ist wie eine mächtige, fest im Erdreich wurzelnde und voll im Saft stehende Buche, die, gefällt, und im Sägewerk zu einem Stapel Holz zerlegt, nun als “Buche - original” feilgeboten wird.
Doch nicht genug der literarischen Schildbürgerei, das Sonnenlicht mit Säcken einzufangen, um sie im fensterlos gebauten Haus zwecks Beleuchtung zu entleeren; denn zwischenzeitlich sind die Sonette Shakespeares in deutscher Prosa erschienen und von einer abgestumpften Öffentlichkeit kritiklos zur Kenntnis genommen worden…
Das Bedürfnis nach Poesie ist ein menschliches Grundbedürfnis, so zeitlos und so alt wie die Poesie selbst, als deren sprachliche Manifestation sich die Lyrik über Jahrtausende und von Gedicht zu Gedicht legitimiert hat. Vor diesem Hintergrund relativiert sich das ein paar Jahrzehnte währende, postmoderne Experiment zur schädlichen Nebenwirkung und es wäre hoch an der Zeit, sich des einzigartigen lyrischen Erbes zu besinnen, anzuknüpfen an diese Tradition, d.h. sich wieder einzulassen “auf das alte Wagnis Gedicht” (O Loerke) und zuvor noch kurz und schnell die PP zu verabschieden, als sprachlichen Betriebsunfall, als literarischen Blindgänger, als historischen Irrtum.

Melancholie

Samstag, September 12th, 2009

An manchen Tagen möcht ich mich verstecken.
Da wird mir einfach diese Welt zuviel.
Da fehlt der Wille mir fürs Menschenspiel:
Nur Ärsche treten oder Ärsche lecken,

Nur Wirt sein oder für den Wirt die Zecken,
Nur immer schneller rennen nach dem Ziel.
An manchen Tagen möcht ich mich verstecken.
Da wird mir einfach diese Welt zuviel.

Die Zeit schlägt Narben mir und blaue Flecken.
Sie treibt mich in ein inneres Exil.
Ein Boot, das ohne Masten, ohne Kiel
Im Schatten liegt von dichten Uferhecken.
An manchen Tagen möcht ich mich verstecken.
Da wird mir einfach diese Welt zuviel.

2.Fassung von “Sich verstecken”