Im Namen der Lyrik - eine postmoderne Posse

“Gestern bekam ich / keinen Steifen. / Vorgestern / auch nicht. / Und vorgestern / war er höchstens / halb steif. // Die Liebe ist eben / etwas Weiches / Zartes.” // (S.35)

“Mitten im Schreiben / eines Gedichts / will sie mit mir / ins Bett / gehen. // Wie soll ich da / die richtigen Worte / finden?” // (S.51)

“Gestern bekam ich / einen Steifen / und wollte dich / sofort haben. // Ich verstehe nicht / warum du diese Einladung / nicht sofort / angenommen hast.” // (S.52)

“Daß ich nicht weiß / ob ich / oder der andere / mit diesem Stöhnen / gemeint ist / dafür / bestrafe ich dich / mit der ganzen Kraft / meines Schwanzes.” // (S.77)

Die zitierten Beispiele sind nicht dem Tagebuch eines pubertierenden Knaben entnommen, sie stammen vielmehr aus dem 2005 bei Suhrkamp in erweiterter Auflage erschienenen Buch “Im Namen der Liebe”, Gedichte von Peter Turrini (Erstausgabe 1993 bei Luchterhand), einem Sammelsurium literarischer Unsäglichkeiten, das es, anders als die schon wieder vergessenen Werke seiner Kollegen, zu einer Neuauflage im 21.Jh. brachte und so eine echte Ausnahme in seiner Art darstellt.
Aber weder die sprachliche Unbedarftheit, noch der peinliche Inhalt der Turrini-Texte, nicht der Beliebigkeitscharakter, der die Werke seiner Kollegen auszeichnet, ja nicht einmal ihre literarische Existenz an sich, macht diese Texte zum echten Ärgernis, sondern der Umstand, daß sie nichts weniger sind als das, was sie zu sein vorgeben - nämlich Gedichte.
“Ein gut Teil dessen, was heute als Lyrik angeboten wird(…), ist steckengebliebene Prosa, ist Schwundform des Essays, ist Tagebuch im Stammelton”, erkannte der Germanist P.Wapnewski schon vor 30 Jahren scharfsichtig in seinem Essay “Gedichte sind genaue Form”. Und die Gültigkeit seines Befunds hat sich seither in erschreckendem Ausmaß verdichtet.
Leider unterließ es Wapnewski, den gemeinsamen Nenner all der lyrisch gewandeten Texte zu verifizieren. Dieses Versäumnis soll hier nachgeholt werden und damit einhergehend die Entlarvung des Etikettenschwindels, der seit gut 40 Jahren im Namen der Lyrik und zur Verhöhnung von Literatur und Lesern gleichermaßen betrieben wird, sowie die Beendigung jener Posse, deren Inszenierung das unangefochtene Flaggschiff dt. Literaturgeschichte ohne Bedenken versenkte, derweil sie selbst als Literatur im Koma - weil nicht gelesen - am Tropf einer unheiligen Allianz aus Schreibern, Verlegern und Rezensenten hängend, ins 21. Jh. herüberdämmert.
Denn die heute vorherrschende lyrische Konvention ist in toto das Resultat von Irrtümern und Mißverständnissen einer von ideologischen Prämissen der späten 60er Jahre des 20. Jh. herrührenden Theorie, deren elementarster Irrtum in der Gleichsetzung von Original und Imitation liegt, wobei sich die Imitation aus der Verdrehung von Ursache und Wirkung legitimiert.
Auf den Punkt gebracht lautet die gängige Meinung vom Gedicht: Ein Text ist ein Gedicht, wenn er so aussieht wie ein Gedicht und von seinem Verfasser als solches bezeichnet wird. Dies Faktum aber offen auszusprechen, gilt als nicht opportun. Umso mehr ist es ein längst überfälliger Akt der Notwendigkeit, dieses falsche und in Opposition zur Originallyrik stehende Bild zu korrigieren, denn der Zustand völliger Ruiniertheit, in dem sich die dt. Gegenwartslyrik befindet und ihre daraus resultierende Bedeutungslosigkeit, ändern nichts daran, daß das zeitgenössische Gedicht unverzichtbarer Bestandteil einer funktionierenden Gesamtliteratur ist. Die gegenwärtige Misere der postmodernen Prospoesie oder Prosyrik, wie sie im Folgenden genannt wird, ist also keine des Gedichts, sondern eine des nicht vorhandenen Gedichts.
Aus historischer Sicht läßt sich die Verdrängung der Lyrik durch schriftbildimitierende Prosatexte und deren Kanonisierung als zeitgenössische Lyrik nur aus dem alle Lebensbereiche erfassenden gesellschaftlichen Wandel der späten 60er Jahre, dem damit einhergehenden Generationswechsel und einem Zeitgeist, der alles Alte schlecht und alles Neue gut hieß, verständlich machen.
Und neu war das sogenannte Prosagedicht tatsächlich, wenngleich kein Gedicht, sondern ein literarischer Lausbubenstreich einer neuen Autorengeneration, deren lyrisches Verständnis über den in W.Kaysers “Kleine dt. Verslehre”, (1946) eingangs stehenden Satz “Wenn auf einer Seite um das Gedruckte herum viel weißer Raum ist, dann haben wir es gewiß mit Versen (Gedichten) zu tun” nicht hinausreichte.
Und diese vom Erfolg gekrönte Attacke gegen die Dichtkunst geschah nur eine Dekade nach dem goldenen Jahrzehnt dt. Lyrik (Bachmann, Bobrowski, Celan, Eich, Enzensberger, Huchel, Krolow, u.a.m.), wobei das individuell wie künstlerisch höchst unterschiedliche Reagieren der Dichter auf den enormen Anpassungsdruck eines größtenteils als positiv empfundenen Wandels aus Platzgründen hier ausgeklammert werden muß: Vom tragischen Verstummen der Besten (Bachmann, Celan) bis zum Nachahmen der Nachahmer durch die Mittelmäßigen und der daraus erwachsenden und bis heute fortwährenden babylonischen Begriffsverwirrung, der Vermischung und Vermatschung der Formen und der Einverleibung der lyrischen Deutungshoheit durch selbsternannte und akademische Experten.
Die in beide Richtungen weisende Widersprüchlichkeit, ja Unvereinbarkeit von Prosa und Lyrik, die nicht zuletzt auf der Einsicht der literarischen Einheit von Sprache und Form fußt, war für Dichter und Denker im Verlaufe der gesamten Literaturgeschichte so selbstverständlich, daß darauf keine Worte verschwendet wurden.
Erst 1952 nahm der Lyriker und Essayist F.G.Jünger eine exakte Bestimmung und Differenzierung von Prosa und Lyrik vor, die als verbindlich erachtet werden kann (F.G.Jünger, “Rhythmus und Sprache im dt. Gedicht”). Demnach definiert sich Prosa (lat.) als die geradeaus gehende, ungebundene Rede, deren Ordnung einzig die des Satzes ist.
Die systematische Verwendung von Prosa als Literatursprache ist ein Phänomen der Neuzeit, untrennbar verbunden mit der repräsentativen Literaturform des sich etablierenden Bürgertums, dem Roman. Und diese Synthese sollte zum Erfolgsmodell der abendländischen Literatur schlechthin werden, denn in der weiträumigen Erzählform des Romans kann die ungebunden dahinfließende Prosasprache zur vollen Entfaltung gebracht werden und umgekehrt. Sprache und Form korrespondieren in nahezu idealer Weise miteinand.
Im neuzeitlichen Drama hat der Wechsel vom Vers zur Prosasprache andere Ursachen denn literarische Notwendigkeit. Das Theater als eine dem Publikum verpflichtete Einrichtung spiegelt vielmehr die sich wandelnden Sprachkonventionen und der Dialog in Versen wurde zunehmend als unnatürlich empfunden.
Und so verbleibt der Vers in der neuzeitlichen Literatur dort, wo er hingehört und wo er unverzichtbar ist - beim Gedicht.
Der Vers ist für das Gedicht, was die Buchstaben für das Wort, was die Wörter für den Satz sind. In gewisser Hinsicht ist er das Gedicht, sind doch die übrigen, allein dem Gedicht eigenen Strukturmittel wie Strophe und Gedichttypen als Erweiterung des Verses zu begreifen. Aus dem Vers heraustreten heißt, das Gedicht verlassen, wozu auch die Verknappung auf das Wort gezählt werden muß, die einen Schritt von zweien markiert, deren zweiter das Verstummen bedeutet.
Und auch das zweite, nur dem Gedicht inhärente Phänomen, sein Ereignischarakter (”Narrative Texte geben Ereignisse wieder, während Lyrik danach strebt, Ereignis zu sein,” J.Culler) ist letztendlich durch die Versstruktur bedingt, in dem Sinne, daß es die dichterische Gestaltung und Zusammenfügung der Verse ist, die das Gedicht als Ereignis funktionieren lassen.
Doch zurück zum lyrischen Analphabetentum und seiner Glorifizierung im Zeichen gesellschaftlichen Fortschritts.
Die Unvereinbarkeit von Prosasprache und Gedichtform läßt eine Verschmelzung nur als Imitation gelten. Die Nachahmung der Verse durch Prosazeilen zur Vortäuschung eines Gedichts basiert so auf der Verdrehung von Ursache und Wirkung. Während beim Gedicht die dem Vers eigene, selten mehr als 15 Silben umfassende Länge für das charakteristische Schriftbild verantwortlich ist, verhält es sich bei der Prosyrik, der Lyrikimitation durch Prosatexte genau umgekehrt. Hier konstituiert sich der Text aus beliebig gewähltem Rahmen und Benennung zum “Gedicht”.
In der Praxis heißt das: Um die Gedichtillusion zu evozieren, muß die den Vers imitierende Prosa links ins Blatt gerückt und rechts Zeile für Zeile abgebrochen und in der nächsten weitergeführt werden. (”Stammelpoesie”)
Schon Wapnewski demonstrierte bei Texten von Handke und Brinkmann auf exemplarische Weise, daß die beliebige Schriftbildverknappung bzw. Zeilenverengung bei Prosatexten keinen literarischen Substanzgewinn erzeugt, da sich die Prosa dem aufgezwängten und ihrem Wesen zuwider laufenden Schriftbild-Korsett nicht fügt, was auch beim Lesen solcher Texte deutlich wird, bei denen die Betonung der Syntax und nicht dem Vers, wie beim Gedicht, folgt.
Damit aber entlarvt sich das einzige formale Gestaltungsmittel der Prosyrik, das mit solch Eifer und überaus manieristisch gepflegte “Zeilenbrechen” - wobei der Zeilenbruch innerhalb eines Wortes als besonders progressiv gehandelt wird - als pure Effekthascherei, als literarisches Hochstapeln, als poetisches Pseudogetue, als lyrischer Selbstbetrug.
Das Wesen der Prosa ist nun einmal ihr ungebundener, geradeaus gehender Sprachfluß und geradeaus bedeutet in der dt. Sprache horizontal. Sie von der Blattmitte aus vertikal zu schreiben, wie z.B.: “Wir / Fanden / Zusammen / Aber / Trafen uns / Nicht / …” (A.J.Hess, “Verfehlt”) und dies als Gedicht auszugeben oder zu akzeptieren, verweist auf ein lyrisches Verständnis, aus dem heraus alles möglich scheint, weil nichts wirklich ist.
Aus heutiger Sicht läßt sich die Prosyrik mit wenigen Worten charakterisieren, als historischer Irrtum, als sprachlicher Betriebsunfall, als literarischer Blindgänger. Und um den Epigonen der Epigonen der Imitatoren der letzten 30 Jahre in einer Wertung gerecht zu werden, empfehlen sich ohnedies nur Schweigen und rasches Vergessen; anders wären Baudelaires “Blumen…” und Shakespeares “Sonette” in dt. Prosa nacherzählt, kaum zu ertragen.

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