Lyrik und Pseudolyrik - eine Grenzziehung

Vor 150 Jahren starb Heinrich Heine, vor 50 Jahren G.Benn und B.Brecht, dazwischen liegen 100 Jahre moderner deutscher Dichtkunst - Anlaß genug, um abseits feuilletonistischer Weihrauchschwingerei den Blickwinkel zu drehen und aus der lyrischen Perspektive - “wie alle im besten Sinne radikalen Positionen eine zutiefst traditionalistische also” (T.Eagleton) - die heutige Lyrik, das zeitgenössische deutsche Gedicht am Beginn des 21. Jh. zu betrachten.
Die gegenwärtige Lyrik? Das zeitgenössische deutsche Gedicht? Es gibt keine gegenwärtige Lyrik. Das zeitgenössische deutsche Gedicht ist eine Fiktion, ein Etikettenschwindel der Verlage, Tarnung und Täuschung als Resultat von Unkenntnis, Orientierungslosigkeit und ideologisch bedingter Sichtverengung aller Beteiligten.
“Ein gut Teil dessen, was heute als Lyrik angeboten wird und prosperiert, ist steckengebliebene Prosa, ist Schwundform des Essays, ist Tagebuch im Stammelton…”, schrieb der Germanist P.Wapnewski 1977 in seinem Essay “Gedichte sind genaue Form” und abgesehen vom Wort “prosperiert” und einer leicht wertenden Tendenz hat die Gültigkeit seines Befunds in der Zwischenzeit ein fast flächendeckendes Ausmaß angenommen. Doch so zutreffend Wapnewski die im folgenden als postmoderne Poesie bezeichneten Texte (abgekürzt PP) im einzelnen auch charakterisierte, so unterließ er es leider, die ihnen zugrunde liegenden Basisstrukturen freizulegen, ihren gemeinsamen Nenner aufzuzeigen.
Sein Therapievorschlag, die Gattungslehre wieder zur Prämisse allen literarischen (hier des lyrischen) Handelns zu machen, spiegelt die unterschiedlichen Perspektiven von Theorie und Praxis, was seine im Kontext erfolgte Berufung auf Goethes “Naturformen der Dichtung” noch unterstreicht. Die darin enthaltene Definition von Lyrik als “enthusiastisch, aufgeregt”, kann für des Meisters eigene Lyrik wohl kaum als verbindlich gesehen werden. Die Gattungslehre, robust, bewährt, praktikabel, klassifiziert Literatur von außen und nach ihrer Fertigstellung. Für das literarische Handwerk hingegen, ganz gleich, ob Lyrik, Epik oder Drama gehört das Integrieren und Assimilieren von Elementen anderer Gattungen nicht nur bei Mischformen (z.B. Balladen) sondern generell zur ständig geübten Praxis. Entschieden widersprochen werden muß auch sowohl Wapnewskis Differenzierung zwischen Lyrik und dem Lyrischen, als auch der Zuordnung der “Schwund-und Stammelform” zum Lyrischen, als einer Art Vorstadium der Lyrik. Das Lyrische und die Lyrik sind Früchte eines Stammes. Hier gibt es nichts zu differenzieren. Und die postmoderne Poesie (PP) ist weder Lyrisch noch Lyrik, was allein die Bedeutung des Begriffs nahelegt, der sich von “lyra”, einem harfenähnlichen Saiteninstrument aus der griechischen Antike, herleitet.
Die zu ziehende Genze verläuft zwischen Lyrik auf der einen und Pseudolyrik (PP) auf der anderen Seite; zwischen Gedichten hier und das Schriftbild von Gedichten imitierenden Prosatexten da. Es handelt sich um zwei Textsorten von diametraler Unterschiedlichkeit, ein Faktum, dessen erfolgreiche Verschleierung wegen der rasch zur Konvention gewordenen Okkupation des Lyrikbegriffs durch die Schreiber von PP bis heute fortwährt.

Original und Imitation im Strukturvergleich

In “Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht” (1952) nimmt der Lyriker F.G.Jünger eine genaue Unterscheidung von Lyrik und Prosa vor, die sich in den Gegensatzpaaren Vers/Satz und Metrum/Rhythmus manifestiert.
Prosa, lat. die geradeaus gehende, metrisch nicht gebundene Rede, ist in Sätzen abgefaßt, die nur den Regeln der Grammatik folgen. Sie ist die Sprache der epischen Literatur.In ihr gewinnt sie Tempo und Rhythmus, aus ihr schöpft sie Atem, durch sie erhält sie ihre literarische Identität. Die Etablierung der Prosa als Literatursprache ist eng mit dem Siegeszug des Romans zur dominierenden literarischen Form verknüpft, eine Entwicklung, in der sich, von England ausgehend, Emanzipation und Aufstieg des europäischen Bürgertums historisch wie literarisch spiegeln, und die im Romanmonopol auf dem globalisierten Literaturmarkt der Gegenwart mündet.
Galten in der Antike und im Mittelalter Verse noch für alle Formen von Literatur als verbindlich, so konzentriert sich ihre Verwendung verkehrt proportional zur “Prosaisierung” oder Profanisierung der literarischen Formen immer stärker auf die Lyrik allein. Im Gedicht findet der Vers seine endgültige Bestimmung, hier gelangt er zur Vollendung.
Anders als in der Prosa, deren Topik nur durch das einfache continuum des Satzes bestimmt wird, ist in der Lyrik ein doppeltes continuum wirksam (F.G.Jünger). Vers und Satz (metrisches und syntaktisches continuum) müssen zur Übereinstimmung gebracht werden. Dies - die Verteilung des Satzes auf den Vers - geschieht durch Umstellungen in der Wortfolge, durch metrische Inversionen. F.G.Jünger: “Ohne Inversionen keine Dichtung. Ohne die Fähigkeit, metrische Umstellungen vorzunehmen, kein Dichter.”
Und es ist auch eine spezifische Eigenschaft des Verses, nämlich seine selten mehr als 15 Silben umfassende Länge, die das für Gedichte so typische Schriftbild mit den weißen Rändern links und rechts bzw. mit dem wort-losen Rahmen um das Geschriebene herum zu verantworten hat. Daneben wirken noch Strophen und die geringe Textmenge konstituiv für das Schriftbild.
Bei der PP verhält es sich genau umgekehrt. Durch Vertauschung von Ursache und Wirkung sind es hier die “schweigenden Ränder”, ist es der wort-lose Rahmen, der den (Prosa)Text - neben seiner Benennung - als Gedicht konstituiert. In keiner Phase der Lyrikgeschichte gibt es eine vergleichbare Häufung von Titeln, die das Wort Gedicht enthalten, wie in der postmodernen Phase, ironischerweise ohne daß die so betitelten Texte Gedichte sind, wodurch sich der Imitationscharakter PP besonders deutlich offenbart.
“Ist Lyrik herstellbar geworden durch den Setzer, d.h. ist sie lediglich das Resultat so oder so umbrochener Zeilen…” fragt Wapnewski in “Gedichte sind genaue Form” um anschließend durch Textumstellungen auf exemplarische Weise die Beliebigkeit PP aufzudecken, eine Beliebigkeit, die v.a. daher rührt, daß sich die literarischen Eigenschaften der ihrem Wesen nach zeilenfüllenden Prosa (”die geradeaus gehende Rede”) durch ein anderes, willkürlich gewähltes und Gedichte nachahmendes, Schriftbild nicht ändern, d.h. daß es für das Lesen (den Leser) einerlei bleibt, ob die Zeilen so oder so abgebrochen oder vollgeschrieben werden.
Das führt direkt zu einem zusätzlichen, das Pseudoformat erhellenden Widerspruch, der beim Lesen dieser Texte offenkundig wird. Die Betonung beim Lesen folgt nicht dem Schriftbild, wie bei Versen, Gedichten üblich, sondern der Syntax (der Prosa), d.h. die oft überaus manieristisch gestalteten Zeilenbrüche müssen, um den durch sie hervorgerufenen Stottereffekt auszuklammern, überlesen werden, als existierten sie nicht.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, sei an diese Stelle vermerkt, daß durch die Analyse PP nicht das lyrische Potential von Prosa in Zweifel gezogen wird. Es gibt genügend vortreffliche Beispiele lyrischer Prosa. Dolch solche Texte geben nicht vor, Gedichte zu sein.
Wie alle traditionellen Literaturformen baut Lyrik auf historisch gewachsenen Strukturen, PP hingegen ist ahistorisch und formal entwicklungsresistent. Sie imitiert das Original an der Oberfläche und konstituiert sich aus Rahmen und Benennung. PP ist eine Hybridform, gezeugt aus der Verschmelzung zweier ihrer literarischen Identität beraubten Ausgangsformen, herstellbar ohne Arbeitsaufwand und ohne Vorkenntnisse, als Phänomen verständlich nur aus dem ideologisch geblähten und auf “fortschrittlich” getrimmten Zeitgeist der späten 60er und folgenden 70er Jahre des 20. Jh..
Weniger literarisch denn psychologisch interessant sind auch die Methoden PP, fehlende Texteigenschaften durch Neupositionierung im Verhältnis zum Leser zu kompensieren und so Bedeutung vorzutäuschen. a) Durch Herabstufung zum Laien wird dem nicht professionellen Leser literarische Kompetenz a priori aberkannt. b) Durch Befolgung der Aufforderung, sich den Text “aktiv” zu erarbeiten, statt ihn nur “passiv” zu konsumieren, kann sich der Laie die zuvor aberkannte Kompetenz wieder aneignen und zum mündigen Leser aufsteigen. c) Mittels theoretischer oder poetologischer Beipacktexte wird der lesende Laie über die Bedeutung des poetischen Textes informiert, wobei in der Regel Bedeutung mit der Intention des Autors gleichgesetzt oder verwechselt wird.
Genaugenommen handelt es sich hier um den dreisten Versuch postmoderner Poeten, persönliches Unvermögen auf den Leser abzuwälzen, und mangelhafte Texte so als mangelhafte Leserkompetenz darzustellen.

Historische Grenzziehung

Der gesellschaftspolitische Wandel in der zweiten Hälfte der 60er und folgenden 70er Jahre des 20. Jh. und der ihn tragende Generationswechsel spülten nicht nur eine neue Autorengeneration, deren Texte den Beginn der PP markieren, in den medialen Vordergrund, sie erteilten auch einer ideologisch gleichgepolten, neuen Generation von Germanisten, Journalisten, von Verlegern, Lektoren, von Lehrern und Lesern u.ä.m. das Wort, wodurch Klassifizierung und Kanonisierung, also die “Weihe” dieser Texte als zeitgenössische Lyrik, rasch anerkannt und zur literarischen Konvention wurden. Diese Weihe, d.h. die Gleichsetzung von PP mit Lyrik, schuf das Fundament einer bis heute wirksamen Begriffsverwirrung mitsamt den darauf wuchernden, negativen Folgen für die Lyrik und den literarischen Diskurs.
Die PP deutschen Zuschnitts orientierte sich nicht an theoretischem Basismaterial, sondern beschränkte sich auf das Nachahmen amerikanischer Vorbilder, v.a. Frank O´Haras Alltagsnichtigkeiten und des nicht weniger alltäglichen Gebrabbels der unter dem Begriff “beat generation” subsumierten Autoren. Auch W.Höllerers unaufhörlich um Atem ringende “Thesen zum langen Gedicht”, ein im Kontext häufig erwähnter Text, eigentlich eine contradictio in adjecto (E.A.Poe), muß dieser ersten Amerikanisierungswelle in der deutschen Literatur zugeordnet werden.
Das parallel mit der Ausbreitung PP einhergehende, allmähliche Verstummen der “eigentlichen” Lyrik(er), ihre Verdrängung an den Rand der literarischen Öffentlichkeit, die ideologisch motivierten, oft aggressiven Attacken gegen ältere Lyriker, ihre Diffamierung und Verunglimpfung als antiquiert bis reaktionär - dem schlimmsten Bannwort jener Tage - , all das führte zu einem enormen Anpassungsdruck an den Zeitgeist, dem viele Dichter nicht standhalten konnten, ohne Schaden zu nehmen an Person und Werk. Allein das in seinen künstlerischen Ausformungen überaus vielschichtige, in seiner zeitlichen und individuellen Dimension stark divergierende “lyrische Verstummen” macht eine historische Grenzziehung zwischen Lyrik und PP nur anhand von Einzeldarstellungen möglich, ein Unterfangen, das Rahmen und Konzeption des Essays überdehnen würde.
In den von postmodernen Schreibern verfaßten Geschichtsbüchern wird die unzulässige Gleichstellung von PP mit Lyrik wie ein simpler Zaubertrick zur Anwendung gebracht, um den Übergang von der Lyrik zu PP, einen in der Literaturgeschichte einmaligen Paradigmenwechsel, einfach nicht existent zu machen. Bei einem an sich höchst dubiosen Modell der Geschichtsschreibung, nach dem sich Literatur in einer linearen Kette von Kausalitäten vorwärtsentwickelt, wo im Dekadenrhythmus eine Schublade zu und die nächste aufgemacht wird, reduziert sich die Komplexizität kulturhistorischer Prozesse auf ein schlichtes, eindimensionales Reiz-Reaktions-Schema. Wird aber die “lyrische Existenz” in postmoderner Zeit ausgeklammert, dann bleibt für die historische Darstellung, außer einem in mancherlei Hinsicht bemerkenswerten Zeitgeistfaktor, kaum Relevantes übrig. Nach einem ersten Höhepunkt in den 70er Jahren, der medial mit Begriffen wie “Neue Subjektivität”, “Neue Sinn-oder Innerlichkeit” u.ä. abgefeiert wurde, erreichte die PP in den 80er Jahren ihre größte Ausdehnung mit neu entfachtem Imitationstrieb, der auch vor einst verhöhnten, traditionellen Formen wie Sonetten nicht haltmachte und einer Schwemme an beigepackten Legitimationstheorien mit aus heutiger Sicht z.T. haarsträubenden Argumentationszöpfen, deren gemeinsamer Nenner als ideologisches Fortschrittsdiktat beschrieben werden kann.
Mit Beginn der 90er Jahre nahmen Leserinteresse und Kaufbereitschaft für die nun des Zeitgeistfaktors verlustig gewordenen Bücher mit PP rapide ab. Das Bemühen ihrer in die Jahre und zu Ehren gekommenen Väter und Mütter, das Erbe zu wahren, sowie die Anstrengungen ihrer Propagandisten und Apologeten, über ihre Funktion im Literatur-und Medienbetrieb, z.B. als Lektoren bei der Selektion neuer Manuskripte, oder als Juroren und Fachbeiräte bei der Vergabe von Preis-und Fördergeldern an den epigonal gestimmten Nachwuchs, oder als notorisch Schönfärberei betreibende Rezensenten im Feuilleton, das überschrittene Ablaufdatum weiter hinauszuzögern, kann einem Dasein zwischen Koma und Agonie einzig noch die künstliche Beatmung sicherstellen. Diese zu rechtfertigen, bedarf es noch einmal des Gleichstellungstricks von PP mit Lyrik, um das Desinteresse an PP als generelles Desinteresse an Lyrik darzustellen.
Als unrühmlicher Schlußpunkt einer für die Literatur unrühmlichen Episode muß ein auf den deutschen Sprachraum beschränkt gebliebenes Phänomen gesehen werden, in dem einmal mehr die elementare Verschiedenartigkeit zweier literarischer Konzeptionen manifest wird. Gemeint sind die im letzten Jahrzehnt modisch gewordenen “Prosaübersetzungen” von Lyrikklassikern der Weltliteratur, allen voran Charles Baudelaires “Les fleurs du mal”.
Nun gilt Lyrik aufgrund ihrer Spezifika an sich als unübersetzbar. Um wieviel mehr hat das für Baudelaires “Blumen…” zu gelten, Gedichten von architektonischer Formenstrenge, wo jedes Wort, jede Silbe eine unverrückbare Position innehat. Trotzdem gibt es kongeniale Nachdichtungen ins Deutsche, von Stefan George und Karl Ammer, die für sich hochgradige Dichtkunst repräsentieren. Aber “Les fleurs du mal” in deutscher Prosa nacherzählt, das ist wie eine mächtige, fest im Erdreich wurzelnde und voll im Saft stehende Buche, die, gefällt, und im Sägewerk zu einem Stapel Holz zerlegt, nun als “Buche - original” feilgeboten wird.
Doch nicht genug der literarischen Schildbürgerei, das Sonnenlicht mit Säcken einzufangen, um sie im fensterlos gebauten Haus zwecks Beleuchtung zu entleeren; denn zwischenzeitlich sind die Sonette Shakespeares in deutscher Prosa erschienen und von einer abgestumpften Öffentlichkeit kritiklos zur Kenntnis genommen worden…
Das Bedürfnis nach Poesie ist ein menschliches Grundbedürfnis, so zeitlos und so alt wie die Poesie selbst, als deren sprachliche Manifestation sich die Lyrik über Jahrtausende und von Gedicht zu Gedicht legitimiert hat. Vor diesem Hintergrund relativiert sich das ein paar Jahrzehnte währende, postmoderne Experiment zur schädlichen Nebenwirkung und es wäre hoch an der Zeit, sich des einzigartigen lyrischen Erbes zu besinnen, anzuknüpfen an diese Tradition, d.h. sich wieder einzulassen “auf das alte Wagnis Gedicht” (O Loerke) und zuvor noch kurz und schnell die PP zu verabschieden, als sprachlichen Betriebsunfall, als literarischen Blindgänger, als historischen Irrtum.

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