Ereignischarakter von Gedichten

“Narrative Texte geben Ereignisse wieder, während Lyrik danach strebt, Ereignis zu sein.”
(J.Culler “Literaturtheorie”)

Das Zitat verweist nicht nur auf die Sonderstellung, die einige Literaturwissenschafter der Lyrik attestieren, als der literarischsten aller Gattungen, es verweist v.a. auf die unterschiedlichen Funktions-und Wirkungsweisen narrativer und lyrischer Struktur. Als ungeeignet für den Vergleich erweist sich dabei die dramatische Literatur, die primär nicht gelesen wird, wo Ereignis (=Texteigenschaft) und Erlebnis (=Subjekterfahrung) an Inszenierung und Aufführung im Theater geknüpft sind, also an interpretierende Instanzen, die sich zwischen Text (Autor) und Leser (Zuhörer) schieben.
Bei narrativen Texten bleibt das Ereignishafte auf die gemeinhin Geschichte oder Handlung genannte, außersprachliche Strukturebene beschränkt, wobei den narrativen Strukturen Erzählinstanz und Erzählform die Funktion der Vermittlung der zur Geschichte gefügten Geschehnisse zukommt. Und obwohl der Text nicht nur vermittelt, sondern die Geschichte auch konstituiert, werden im Rezeptionsakt Geschichte und Vermittlung wieder separiert, d.h. der Leser nimmt nur die Geschichte als Erlebnis wahr.
In der Lyrik hingegen entfalten sich fiktionaler und semantischer Bereich nur gemeinsam mit der sie tragenden Sprachstruktur. Alle an einem Gedicht beteiligten Elemente sind zu einer unauflöslichen Einheit verschmolzen, die in ihrer Ganzheit als Ereignis wirksam werden. Und dieses Einheit/Ganzheit=Ereignis-Prinzip funktioniert auch über den Rezeptionsakt als Ereignis/Erlebnis-Transformation, d.h. Ereignis und Erlebnis sind in der Lyrik ident. Es ist das Gedicht als Ganzes, so wie es auf dem Papier steht, das dem Leser zum poetischen Erlebnis wird.
Im Gegensatz zur Epik, wo die Literaturwerdung, also der Übergang vom mündlichen zum schriftlichen Erzählen nur geringe Auswirkungen auf die Herausbildung narrativer Strukturen zeitigte, wo erst das Aufblühen des Romans als bevorzugte Literaturform des etablierten Bürgertums zu einer Fülle an erzähltechnischen Errungenschaften und Fertigkeiten führte, entstanden die lyrischen Srukturen als unmittelbares Produkt der “Papierwerdung” des Gedichts. Als Ursache und Ausgangspunkt dieser Entwicklung fungierte ein Paradoxon - das lyrische Paradoxon. Es besagt, daß das lyrische Gebäude auf einem Fundament der Verfremdung errichtet wurde; daß ein Zustand der Verfremdung das Streben der Lyrik nach Einheit und Vollendung bedingt. Das für die Schaffung lyrischer Strukturen bis heute verbindliche Regelwerk resultiert aus der Notwendigkeit, die das ursprüngliche, das mündliche Gedicht zum Ereignis machenden Eigenschaften, nämlich die Einheit von Lyriker und Musiker, der direkte Vortrag und die Persönlichkeit des Dichters, dem Schrift gewordenen Gedicht zugänglich zu machen und so den Ereignischarakter zu wahren.
In der “Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik” nennt Nietsche die Einheit von Lyriker und Musiker, er spricht von Identität, das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik. Doch nicht nur in der Antike, auch im frühchristlichen Europa bis über das Mittelalter hinaus (Troubadours, Minnesänger) und in alten Hochkulturen wie Persien, Indien oder China ist die Einheit Dichter - Musiker dokumentiert, was ihre herausragende Bedeutung im ursprünglichen Gedicht außer Zweifel stellt und wodurch auch das Primärziel für die Entwicklung lyrischer Strukturen vorgegeben war - die Transformation von Musik in Sprache. Als Resultat dieser Transformation entstanden die bis heute verbindlich gebliebenen Basisstrukturen, allen voran der Vers, also Versformen und der ihnen zugrunde liegende Takt, das Metrum, dann Strophe und die sie leimenden Reimarten sowie Liedform wie Oden, Lieder als erste Gedichttypen.
Durch einen zweiten Transformationsschritt kam es zum Wandel des biographischen Ichs in ein Dichter-Ich, wodurch die “papierene” Lyrik Persönlichkeit und Identität erhielt, nach Stimme, Melodie und die sie bedingende unmittelbare emotionale Wirkung durch die musikalische Transformation. Diese vom Dichter-Ich geprägte Identität der Lyrik wird in der Theorie häufig und fälschlich als subjektiver Charakter klassifiziert. Das Dichter-Ich spiegelt die Identität des Dichters in seiner lyrischen Existenz. Daneben hat jedes Gedicht noch sein eigenes Subjekt, seine spezifische Identität, das Gedicht-Ich, das sich im Entstehungsprozeß als Teil dieses Prozesses durch Synthese aus biographischem Ich und Dichter-Ich herauskristallisiert. Aufgrund fehlender Differenzierung erweist sich der häufig gebrauchte Terminus “Lyrisches Ich”, das einmal Dichter-Ich, ein anderes Mal Gedicht-Ich meint, als dringend renovierungsbedürftig.
Die personale Transformation, also die Metamorphose von der biographischen in die lyrische Existenz führte zur Erweiterung und zur Vertiefung des poetischen Raums. Das Gedicht wurde zum Ort bzw. Medium einer metaphysischen Einheit, zum dichterischen Ausdruck eines Strebens nach dem Sublimen. “Das Ich des Dichters tönt aus dem Abgrund des Seins.” (Nietsche)
In einem weiteren Transformationsschritt, dem der Malerei in Sprache, (Stefan George: “was in der malerei wirkt ist verteilung linie und farbe, in der dichtung: auswahl mass und klang.”) vollendet das Gedicht schließlich in dreidimensionaler Komplexizität - auf phonetischer, auf visueller und auf semantischer Ebene - seine Ereignishaftigkeit.
Und nicht zuletzt aus historischer Perspektive bewähren sich die unterschiedlichen, zeitspezifischen Prägungen der Einheit/Ganzheit = Ereignis-Formel als verläßliche Indikatoren für den jeweiligen Epochenstil: Während die Lyriker der Romantik versuchten, in ihren Gedichten den lyrischen Ursprung zu simulieren, wodurch das Ereignisstreben als ein “Zurück zu den Wurzeln” funktionierte, wurde für die Lyriker der Moderne die Freilegung des Verfremdungsfundaments bzw. das Miteinbeziehen dieses Fundaments in das Einheit/Ganzheit-Streben zu einer wichtigen Inspirationsquelle ihrer Dichtkunst.

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