Anonymus
Heutzutage spekulieren nicht nur Banken, Broker und andere dem Halbgott Geld verfallene Institutionen und Individuen, um schnelle Profite einzufahren. Das Spekulieren über Personen, ausschließlich Prominente, über historische und aktuelle Ereignisse und selbstverständlich über die Zukunft, hat in den Medien längst die Recherche abgelöst. Auch im privaten Umfeld gelten Gerüchte, Vermutungen, Spekulationen als wesentlich unterhaltsamer als ein durch Tatsachen belegtes Wissen, dem meist der Geruch des Langweiligen, Altmodischen anhaftet.
Diese Kasinomentalität hat alle Schichten der Gesellschaft erfasst, sie scheint in Zeiten von Spätkapitalismus und Krise systemimmanet zu sein. Und auch Künstler und Literaten machen da keine Ausnahme und reiten auf der Welle des Unseriösen ganz oben mit.
Was nun den größten Dichter und Dramatiker, den die Menschheitsgeschichte hervorgebracht hat, betrifft, so ist die Gerüchtebörse ein alter Hut. W. Shakespeare war und ist das Spekulationsmedium schlechthin und das seit seinem Dahinscheiden vor fast 500 Jahren.
Der Grund: Auf der einen Seite ein literarisches Werk, dessen Einzigarigkeit außer Zweifel steht, auf der anderen Seite ein Verfasser, dessen Biographie, vom Namen und ein paar Eckdaten abgesehen, völlig im Dunklen liegt. Eine Dunkelheit wie geschaffen für all die Kleingeister, die über die Jahrhunderte ihre trüben Lampen und kurzen Kerzen darin entzündet haben, um sie mit dem Nebel der Unkenntnis zu füllen.
Neben den ungezählten Pseudobiographien, die Jahr für Jahr erscheinen, in denen so ziemlich jeder seiner Zeitgenossen dafür herhalten muss, als Shakespeare geoutet zu werden, gibt es noch jene, die behaupten, der Dramatiker Marlow sei in Wirklichkeit Shakespeare gewesen und die “Oxfordianer”, für die Shakespeare ein Pseudonym für den 17. Grafen von Oxford gewesen sein soll.
Damals, nämlich 1920, hat der Autor J.T. Looney in einem ziemlich “modernen” Verfahren den 17. Earl of Oxford, Edward de Vere, als Shakespeare identifiziert.
Wobei die Vorabthese lautete: Aufgrund der Komplexizität und des darin enthaltenen Wissens können die Dramen nur von einem Adeligen verfasst worden sein, ein Bürgerlicher hatte damals schlicht nicht die Bildung, solche Werke zu schreiben.
Auch R. Emmerichs neuer Kinoschinken über W. Shakespeare folgt dieser Theorie und füttert sie in guter Holywoodmanier noch mit einem Haufen Schwachsinn.
Grundsätzlich und völlig unvoreingenommen betrachtet, ist Looneys Verfahren, aus den Werken ein Profil des Verfassers zu extrahieren und dieses mit Persönlichkeiten aus des Dichters Zeit abzugleichen, keine schlechte Methode gewesen. Nicht umsonst wird sie auf ganz anderem Gebiet, in der Kriminalistik, heute erfolgreich angewendet.
Trotzdem ist und bleibt das Resultat Spekulation, eine Glaubenssache und v.a. ein gutes Geschäft für Verleger und Filmproduzenten, wer W. S. wirklich war. Und hier treffen sich historische und finanzielle Spekulation und werfen einen satten Gewinn.
Letztendlich ist es sekundär, ob Shakespeare ein Bürgerlicher, ein Adeliger oder ein Alien war, da die Einzigartigkeit und Größe seiner Werke ohnehin nur durch einen “Anonymus” erklärbar bzw. verständlich wird.