Das Zeitgedicht hier und heute
Das Zeit-bzw. Zeitungsgedicht, jene Gedichtform, die für den Tag geschrieben, in ihrer Haltbarkeit aber unbegrenzt ist, falls der Verfasser sich auf das Handwerk des Verse-Machens versteht, hatte seinen künstlerischen wie kommerziellen Höhepunkt im ersten Drittel des 20.Jh., v.a. aber in den 20er Jahren desselben, als Dichter wie Tucholsky, Kästner oder Brecht viele ihrer Gedichte regelmäßig und mit großem Erfolg in Tageszeitungen und Magazinen publizierten, Gedichte, die auch gegenwärtige Leser spielend in ihren Bann ziehen, obwohl sie nur für den Tag, für die Zeitung geschrieben wurden, wobei unter diesen Meistern E.Kästner noch herausragt, dessen Lyrik auch heute noch überaus lesenswert und fällig für ein Wiederentdecken ist, denn Kästners stilistische Souveränität, seine beißende Ironie, den Spießbürger betreffend, dies alles ist nach wie vor einzigartig und aktuell. Die Verdrängung der Lyrik durch postmoderne Pseudopoesie, genauer durch Schrumpfprosa, die das Schriftbild von Gedichten imitiert, die mit der zweiten Hälfte der 60er Jahre begann und bis heute fortwährt, setzte auch dem Zeitungsgedicht ein Ende.
Aber nicht vollständig, wenn wir genauer hinsehen, und auch nicht vergleichbar mit seinen Vorgängern, denn zumindest in zwei großen wiener Zeitungen erscheint täglich eine Rubrik in Versen und gereimt, mit “politischem” Inhalt. Das Niveau von Form und Inhalt dieser gereimten Glossen ist allerdings tiefer als der Mariannengraben, was nicht nur für W. Martins seit einer Ewigkeit in der KronenZeitung abgedruckten ranzigen Speichel des Herausgebers, in paarweise gereimte Verse gegossen, gilt, sondern mehr noch für die lyrische Drillingsmißgeburt auf Seite 2 der Wiener Zeitung, die das Windgepinkle von W.Martin tatsächlich noch unterbietet, eine Leistung der besonderen Art. Daß an und für sich renommierten Journalisten, kaum versuchen sie sich in Versen, jegliches Maß und Kritik am eigenen Text verlorengeht, sodaß sie derartigen Schrott publizieren, bedürfte eigentlich einer sofortigen Psychoanalyse.
Da sich die versfabrik.at der Lyrik und den Lesern gegenüber verantwortlich fühlt, zeigt sie nicht nur die Unzulänglichkeiten anderer auf, sondern publiziert selbst in nächster Zeit vermehrt “Zeitgedichte”, wofür die sechs Sonette zur kommenden Wahl, die auf diesen Text folgen, eine Kostprobe geben sollen.